Gastbeitrag von Frank Gerstner
Wie viel Ehrenamt gibt es noch?
Vereine, Verbände, Hilfsorganisationen, Kirchen, Bündnisse – all diese Gruppierungen könnten ohne das Ehrenamt nicht existieren. Ohne die zahlreichen Helfer und Helferinnen wären viele soziale Angebote oder Angebote im Bevölkerungsschutz erst gar nicht möglich oder würden schon lange nicht mehr existieren. Das Problem: Dort, wo ehrenamtliche Arbeit geleistet wird, verteilt sich diese vermeintlich auf immer weniger Schultern. Die, die schon immer da waren, übernehmen immer mehr Aufgaben, neue Freiwillige kommen nicht oder nur in geringem Maße nach. Doch, ist das wirklich so? Hat sich unsere Gesellschaft so verändert, dass Freiwilligkeit dem eigenenNutzen untergeordnet wird? Haben wir uns zu einer Gesellschaft von Egoisten entwickelt?
Laut dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) sind ca. 28,8 Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich engagiert und setzen sich in ihrer Freizeit für das Gemeinwohl ein, also ca. 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren.
Was man bei der Diskussion um fehlende Helfer kaum glauben kann: Der Anteil der freiwillig Engagierten ist im Laufe der Jahre sogar gestiegen.
So waren es im Jahr 1999 nur rund 30 Prozent (Freiwilligensurvey 2019).
Der Vorwurf des Egoismus kann also entkräftet werden. Doch woran liegt es nun, dass die Wahrnehmung und die tatsächlichen Zahlen so weit auseinander liegen? Meiner Meinung nach liegt es daran, dass sich das Ehrenamt in seiner Form verändert hat. Das klassische Ehrenamt ist stark institutionalisiert. In der Regel wird es über eine Organisation oder einen Verein organisiert, setzt oftmals zeitintensive Aus- und Fortbildungen voraus und ist darauf ausgelegt, dass Aufgaben langfristig und zuverlässig übernommen werden.
Und genau hier liegt das Problem. Die Lebenswirklichkeit vieler Freiwilliger hat sich verändert. In den meisten Familien arbeiten heute beide Partner, es gibt wesentlich mehr Singles oder Alleinerziehende als früher, der Pendelweg zwischen Arbeitsstätte und Wohnort hat sich oft enorm vergrößert – kurz: Die zeitlichen Ressourcen haben sich verknappt, die ein klassisches Ehrenamt erst möglich gemacht haben. Diese Verknappung betrifft selbst schon Jugendliche. Durch Ganztagsunterricht oder -betreuung haben die Kinder und Jugendlichen nicht mehr die gleichen zeitlichen Möglichkeiten wie früher, als die Schule meist spätestens um 13 Uhr beendet war.
Daneben sind neue – offene - Formen des Ehrenamtes entstanden, die es Interessierten ermöglichen, ihr Engagement punktuell ohne Vereinsverpflichtungen zur Verfügung zu stellen. Hierzu gehören z.B. offene Angebote wie das BRK-Mehrgenerationenhaus in Michelau oder aber auch Initiativen wie die Aktiven Bürger oder die Seniorengemeinschaft Lichtenfels. Hier kann ein Ehrenamt ausgeübt werden, das in aller Regel keine großen Ausbildungen voraussetzt. Ich kann mich für die Übernahme einer exakten Tätigkeit bereit erklären, ohne "Nebentätigkeiten" wie eine Vorstandsarbeit übernehmen zu müssen. Diese Form ist natürlich wesentlich interessanter für alle, die wegen knapper zeitlicher Ressourcen ihr Engagement begrenzen müssen.
Diese Betrachtungsweise ist natürlich sehr grob und spiegelt in keiner Weise die diffizilen Nuancen der unterschiedlichsten Formen von Ehrenamt wider. Aber grob lässt sich auf jeden Fall erkennen, dass das klassische Ehrenamt eine vermeintliche Konkurrenz bekommen hat. Die Frage ist nur, ob dies ein Problem darstellt?
Hier bin ich der Meinung: Nein. Wie oben schon erwähnt, ist es nicht so, dass das die Gesamtzahl der Freiwilligen sich in gleicher Höhe aufgeteilt hat, sondern dass sie stark angestiegen ist und es Menschen nun ermöglicht wird, sich zu engagieren, die vorher nicht tätig waren. Vielmehr sehe ich die Chance, dass das offene Ehrenamt Lust machen kann auf das klassische:
Personen, die sich zunächst bewusst für ein offenes Ehrenamt entschieden haben, kommen durch ihr Engagement unweigerlich auch mit Freiwilligen des "anderen Lagers" in Kontakt, tauschen sich aus und können so vielleicht auch für ein klassisches Ehrenamt begeistert werden - für den Zeitpunkt, an dem sich ihre Lebenswirklichkeit wieder verändert hat, wenn die Kinder aus dem Haus sind, sie in den Ruhestand gegangen sind, die Arbeitsstätte gewechselt haben.
Auf der anderen Seite bietet das offene Ehrenamt Freiwilligen, die bereits stark im klassischen Ehrenamt engagiert sind, die Möglichkeit, sich außerhalb ihres normalen Wirkens zeitlich befristet für eine neue Sache zu engagieren, ohne gleich Überforderung befürchten zu müssen.
Wenn klassisches und offenes Ehrenamt sich nicht als Konkurrenz, sondern als sinnvolle Ergänzung sehen, besteht die Möglichkeit der gegenseitigen Stärkung und die Hoffnung, dass die Wahrnehmung der vermeintlich fehlenden Freiwilligen sich der Realität angleicht.
Ihr Frank Gerstner, M.A.
Dipl. Soz. Päd. (FH)
Leiter BRK-Soziale Dienste
beim Kreisverband Lichtenfels